Schafe

Aus eigener Quelle (vgl. Lk 15,1-10)

„Komm’ schnell mit! Der Hirte führt uns hinaus ins Weite! Unten am Fluss können wir unseren Durst löschen und ausruhen“, rief ein Schaf seinem Schafsfreund. „Nein, ich komme nicht mit! Ich will nicht immer das tun, was der Hirte mir vorgibt. Ich weiß selbst, was gut für mich ist“, antwortete dieser und blieb einfach im Stall stehen. „Verlasse dich lieber auf den Hirten. Er führt uns auf grüne Wiesen und an frische Quellen“, gab das Schaf zu Bedenken. „Ich kann aus eigener Quelle leben. Das Wasser des Hirten brauche ich nicht. Ich habe die Milch in mir, und zwar reichlich. Das wird mir genügen. Ich bin nicht durstig“ trotzte der Freund und rührte sich nicht von der Stelle. „Wie du meinst. Das musst du selbst entscheiden. Ich folge dem Hirten“, beendete das folgsame Schaf das Gespräch und ließ seinen Freund allein im Stall zurück.

Den ganzen Tag blieb das trotzige Schaf im Stall und freute sich über seine Unabhängigkeit. „Ich kann heute tun und lassen, was ich will“, dachte es sich und überließ sich ganz dem Faulenzen. Als die anderen Schafe am Abend zurückkamen, wollten sie sogleich wissen, wie das Schaf seinen Tag verbracht habe und waren recht erstaunt, dass es sich gar nicht aus seinem Stall herausbewegt hatte.

Am nächsten Morgen forderte abermals ein Schaf das trotzige Schaf auf, dem Hirten auf die Weide zu folgen. „Wir haben gestern eine herrliche Quelle gefunden und uns am frischen, kühlen Wasser gelabt. Komm’ schnell mit!“ Doch auch an diesem Tag wollte das trotzige Schaf lieber seine eigenen Wege beschreiten. „Nein, mich dürstet nicht. Ich habe die Milch in mir. Ich kann aus eigener Quelle leben.“ – „Wenn du nicht von dem Wasser trinkst, zu dem der Hirte dich führt, dann wird deine Quelle bald versiegen und du wirst elendig zugrunde gehen“, mischte sich sein Freund ein, dem am Wohl des Schafs gelegen war. „Nein, das glaube ich nicht. Folge du dem Hirten, wenn du es für richtig hältst. Ich will fortan nach meinen eigenen Gesetzen leben!“ – „Wie du meinst“, entgegnete sein Freund traurig und überließ das Schaf sich selbst.

An diesem Tag machte sich das eigenwillige Schaf also selbst auf den Weg, um Nahrung zu suchen. Denn in Wahrheit hatte es großen Hunger und Durst, und auch ein wenig Sehnsucht nach der wärmenden Sonne und dem erfrischenden Wind. Direkt hinter dem Stall fand es ein kleines Stückchen Wiese. Da es in der Nacht geregnet hatte, stand noch etwas Wasser auf dem Gras, das es trank.

Trotz der Ermahnungen seiner Freunde ging das Schaf viele Tage lang auf eigene Faust durchs Leben. Wenn der Hirte kam, versteckte es sich im Stall und brach auf, eigene Wege zu gehen, sobald die Herde außer Sichtweite war. Doch bald war das Stückchen Wiese hinter dem Stall abgegrast und das Wasser im Boden versickert. Nun ernährte es sich von Pflanzen, die es zuvor noch nie gegessen hatte, und trank aus Quellen, in denen das Wasser schon abgestanden und trübe war. Aber es fühlte sich gut dabei. Bis zu dem Tage, an dem es kein Wasser mehr fand und in Not geriet. Schließlich verspürte es einen brennenden Durst. Nur wenige Stunden später fühlte es sich plötzlich matt und krank. Schon am Abend gab es keine Milch mehr. Sein Inneres blähte sich auf. Das Schaf hatte große Schmerzen, so dass es am folgenden Morgen noch nicht einmal die Kraft hatte, sich zu verstecken, um den Augen des Hirten zu entwischen. Matt und fiebrig fand der Hirte es am Boden liegend im Stall vor. „Na, mein liebes Schaf? Bist du krank geworden? Glaube nicht, ich hätte dein Fehlen nicht bemerkt. Ich lasse jedem Schaf die Freiheit, mir zu folgen oder nicht. Dann nahm er das Schaf und trug es auf Händen über Wiesen und Felder bis hin zur Quelle. Dort ließ er es von dem frischen, heilenden Wasser trinken und legte es dann im Schutze eines Baumes in den Schatten. Am Abend trug er es wieder zurück in seinen Stall und bedeckte es mit Stroh, weil es fiebrig war und zitterte.

Am nächsten Morgen war das Fieber gesunken. Als der Hirte den Stall betrat, stand das Schaf wieder aufrecht. Seit diesem Tage folgte das Schaf dem Hirten auf all seinen Wegen und begab sich bis an sein Lebensende mit Freude unter seine Führung und seinen Schutz. Aus eigener Quelle leben, das wollte es doch lieber nicht noch einmal probieren.

Karin Maria Müller