Zwei winzig kleinen Pflänzchen am Rande einer Wiese waren gerade erst aus dem Boden gesprossen. Sie wussten selbst noch gar nicht recht, was oder wer sie waren, geschweige denn, was einmal aus ihnen werden würde. Es waren ja schließlich nur Blumen. Was beide jedoch vom ersten Tag an verspürt hatten, war ein unglaublich großer Drang, sich der Sonne entgegenzustrecken.
Eines Tages kamen zwei Mädchen vorbei. „Schau mal, zwei Sonnenblumen. Jetzt sind sie noch ganz winzig. Aber bald werden sie groß und schön sein. Sonnenblumen gefallen mir besonders gut. Sie wachsen der Sonne entgegen“, meinte eines der Mädchen. „Ja, ich mag sie auch. Die Sonnenblumen sind ein besonders schönes Geschenk Gottes an die Menschen. Sie stehen am längsten auf dem Feld. Erst wenn alle anderen Blumen im Spätsommer verblüht sind, entfalten sie ihre ganze Schönheit“, entgegnete ihre Freundin. „ ‚Was lange währt, wird endlich gut!’, sagt meine Oma immer“, fügte die andere noch hinzu, bevor sie weiter ihres Weges zogen.
„Hast du das gehört? Wir werden einmal zu den schönsten Blumen des Feldes heranwachsen“, freute sich die eine Sonnenblume und konnte es schon jetzt kaum mehr erwarten. „Vielleicht“, meinte ihre Nachbarin. „Ich weiß es nicht. Vielleicht sind wir tatsächlich ein Geschenk Gottes an die Menschen. In jedem Fall sorgt er gut für uns. Ich liebe seine Sonne und ihre wärmenden Strahlen ebenso wie den kühlen Regen. Ich habe keine Ahnung, was einmal aus mir werden wird. Ich genieße es einfach hier zu sein, vor allem an sonnigen Tagen.“
„Das reicht mir nicht!“, antwortete die andere Sonnenblume. „Ich will schneller wachsen und bald blühen.“ So nahm sie sich vor, alles ihr Mögliche zu tun, um schneller zu gedeihen.
Sobald die Sonne herauskam, streckte sie sich ihr mit aller Kraft entgegen, um möglichst viele Strahlen aufzufangen.
Sobald es regnete, breitete sie ihre Blätter ganz weit aus, um möglichst viel Wasser in sich einzusaugen. In der Nacht war sie sehr unruhig, denn auch in diesen Stunden wollte sie etwas tun. So schlief sie oft sehr schlecht und fühlte sich morgens matt und ausgelaugt statt frisch und lebendig wie ihre Nachbarin.
„Warum ruhst du dich nachts nicht einfach aus und genießt die Feuchtigkeit in der Luft?“, fragte diese, als die andere den Tag wieder einmal schlecht gelaunt und nur mit einem müden Lächeln begrüßte.
„Das kann ich nicht. Ich will doch schnell wachsen und schön groß werden, damit die Menschen Freude an mir haben. Ich tue eben immer, was ich kann. Tag und Nacht“, antwortete sie.
„Ach! Das liegt doch nicht in deiner Hand. Genieße die Strahlen der Sonne und richte dich immer wieder nach ihnen aus, dann wirst du ganz von selbst zu der Größe heranwachsen, die dir zugedacht ist. Ich will auch gern eine Augenweide für die Menschen sein und gebe mir Mühe. Doch am liebsten schaue ich nun einmal in den Himmel und richte meinen Blick auf die Sonne, denn ich weiß ganz genau: Ohne sie werde ich niemals blühen. Der liebe Gott wird schon wissen, was er mit uns vorhat. Schließlich gibt er uns doch die Sonne und das Wasser zum Leben. Du musst einfach etwas Geduld haben!“, entgegnete die Nachbarin. „Wenn er uns die Sonne und das Wasser gibt, dann soll er uns auch die Geduld geben!“, antwortete die andere. „Am besten sofort!“ Da lachte ihre Nachbarin und richtete einen liebevollen Blick auf die Sonnenblume an ihrer Seite. „Schau mich an!“, sagte sie. „Ich bin etwas kleiner als du und vielleicht nicht ganz so ehrgeizig. Doch ich lebe glücklich und zufrieden. Denn die Nacht hat mich die Geduld gelehrt. Wenn es dunkel ist und die Sonne den Sternen weicht, dann weiß ich: Es ist Zeit für mich, zu ruhen und Kräfte zu sammeln für den nächsten Tag. Das solltest auch du tun. Für die Sonne gibt es eine Zeit zum Scheinen und für die Blumen gibt es eine Zeit zum Blühen. Genauso gibt es für die Menschen Zeiten der Arbeit und auch der Ruhe. Doch Geduld haben und erkennen, wann welche Zeit gekommen ist … Das müssen wir alle schon selbst lernen.“ Das schien der Sonnenblume logisch und sie beschloss es ihrer Nachbarin gleichzutun. So genoss auch sie fortan die Sonne am Tag und die Ruhe in der Nacht und freute sich schon am Abend auf den nächsten Tag, an dem sie nichts Anderes mehr tun würde als sich ganz der Sonne hinzugeben.
Es dauerte gar nicht lange, da entfalteten beide Blumen ihre ganze Schönheit und bildeten jeweils eine wunderschöne Blüte aus, genauso, wie sie es sich gewünscht hatten.
Wieder kamen die beiden Mädchen des Weges und bestaunten die Sonnenblumen. „Schau, wie schön diese Sonnenblume ist!“, rief das eine Mädchen aus. „Ja, stimmt. Aber sieh dir erst ihre Nachbarin an. Sie ist zwar etwas kleiner als die andere. Aber ihr Gelb ist viel gelber und ihr Grün ist viel saftiger. Findest du das nicht auch?“ – „Stimmt. Aber das sieht man wirklich nur, wenn man genauer hinschaut. Sie hat bestimmt mehr Sonne abbekommen als die andere”, antwortete das andere. „Mag schon sein, aber eigentlich steht sie doch im Schatten der größeren …“, stellte ihre Freundin fest und schritt nachdenklich weiter ihres Weges.
Karin Maria Müller